„gehörlos“ – Ein Film gibt Stimme
Als kongeniales Duo haben die niederösterreichische Regisseurin Anita Lackenberger und Lukas Huber, Leiter des Gehörlosenverbandes NÖ, im laufenden Projekt zusammengefunden. Und in Folge mit „gehörlos“ einen Film geschaffen, der erstmals in der österreichischen Geschichte jenen Menschen eine Stimme gibt, deren eigene über Jahrzehnte brutal unterdrückt oder gedankenlos ignoriert wurde.
Im Frühling 2025 wurde „gehörlos“ auf Kino-Premieren in Wien, St. Pölten, Villach und Innsbruck präsentiert. Nun beginnt „gehörlos“ für einige Monate seine Filmreise quer durch Österreich und auch über die Grenzen. Der Film zeichnet einen teils schockierenden Weg zahlreicher ausgegrenzter Schicksale nach, die oft lebenslang keine Chance hatten. Damit wird das Kapitel gehörloser Menschen in Österreich ganz neu aufgeschlagen.
Über die Beweg- und Hintergründe genauso wie den heute dringend nötigen Bedarf an Reflexion und Bewusstsein sowie Maßnahmen – darüber diskutierten Regisseurin Anita Lackenberger und der selbst gehörlose Leiter des Gehörlosenverbands NÖ Lukas Huber mit Therese Reinel: Die Geschäftsführerin des BhW NÖ trägt, speziell mit dem Projekt BhW barrierefrei, Sorge für ein hürdenfreies Leben für alle Menschen im Bundesland. Im April trafen sie einander zum ausführlichen Gespräch im BhW-Haus in der St. Pöltner Innenstadt – unterstützt von der erfahrenen Dolmetscherin Patricia Brück.
gehörlos: Ein lauter Film in stillen Bildern
Es ist keine leichte Kost an Geschichten, die überwiegend gehörlose Menschen selbst sowie hörende Angehörige in den 90 Minuten preisgeben. Für Hörende sind die Hürden, vor denen sie im Verlauf der letzten hundert Jahre standen und heute teilweise immer noch stehen, kaum nachvollziehbar. Dazu kommen Misshandlungen und Missbrauch, Ignoranz, Unterdrückung und Ausgrenzung sowie ein perfider facettenreicher Sprachentzug durch Verbote des Gebärdens. Nachgestellte Szenen des Gesterns zeigen Kinder mit am Rücken zusammengebundenen Händen. Kommunikation ist ihnen damit nicht möglich. Die gewaltvollen Mittel, mit denen sogenannte Betreuungs- und Bezugspersonen den ihnen anvertrauten hilflosen Schützlingen das Sprechen lernen wollten, sind allesamt unmenschlich.
Diese Timeline an – in den allermeisten Fällen auch noch ungestraft – verübten Taten zieht die Regie von der NS-Zeit bis heute gnadenlos. Die klaren, bestechlich sachlichen Bilder und veranschaulichenden Szenerien von „gehörlos“ berühren zutiefst. Und machen sehr betroffen.
„Dazu will der Film aber auch den Horizont erweitern, den Blick öffnen“, führt Lackenberger aus, „und auch das Schöne zeigen. Wie drückt sich jemand aus, und wollen wir das verstehen? Weil können tun wir es, weil es immer eine Brücke gibt.“ So geht es ihr auch um die Darstellung von Sprache als Schwingung – und um einen ganz grundlegenden Faktor in der Betrachtung der Welt gehörloser Menschen: „Was, wenn wir es als Gabe betrachten, wenn ein Mensch anders kommuniziert als durch Sprechen“, setzt sie einen wertvollen Impuls, „als Gabe, und eben nicht als Defizit?“
Schwierig + Schwierig = Bahnbrechend
Lackenberger trifft auf Huber: Aus einem Treffen von zwei in ihrer jeweiligen Branche als „schwierig“ bekannten Menschen wurde buchstäblich quasi über Nacht das perfekte Duo. Als Leiter des Gehörlosenverbandes NÖ fängt der in der Gehörlosen-Community bestens vernetzte Huber rasch Feuer für den geplanten Film. „Wir sind uns offensichtlich ähnlich in der Nachhaltigkeit, Dinge durchsetzen zu wollen“, bringt es Lackenberger auf den Punkt. Und: „In Wirklichkeit ist Lukas der Co-Regisseur des Films. Denn er war der Einzige, der herausfinden konnte, was mit all den Menschen, von denen wir jetzt endlich erzählen können, geschehen ist. Ohne ihn hätten wir nie all die Personen finden und interviewen können.“
Mutige Geschichten öffnen Türen
„Mit den meisten Personen im Film hatte ich selbst Kontakt“, berichtet Huber über die Arbeit, „und ich bin stolz auf sie, dass sie bereit waren und den Mut hatten, ihre Geschichten zu erzählen und dadurch auch nochmals zu durchleben.“ Geschichten, die von grauenvollen Heimaufenthalten, brutalen Unterrichtsmethoden, zerstörten Kindheiten und Mord berichten. Vom Mundtot-Machen, vom Verrat, vom Wegschauen. Und von kaputten Träumen, einen Beruf zu erlernen – oder jemals selbst eine Familie zu gründen.
Gerade auch das frühere Taubstummen-Institut in St. Pölten wird im Film stark beleuchtet – in den langen Schatten des NS-Regimes: „1938 wurde es aufgelöst“, führt Huber aus, „doch es gibt zwei verschiedene Perspektiven, was dann passierte. Die offizielle ist jene, die ein Lehrer dokumentiert hat: Ein Bus hätte die Kinder abgeholt, um sie in die damalige Speisinger Schule zu bringen. Lebende Zeuginnen und Zeugen aber standen hinter der zweiten, der inoffiziellen Version: Es waren zwei Busse, auf die die Kinder aufgeteilt wurden. Einer fuhr tatsächlich nach Speising. Doch wohin der zweite fuhr, wusste niemand. Dass der Lehrer hier möglicherweise gelogen hatte, hat mich sehr berührt.“
Durch seine Recherchen findet Huber über zwei Drittel der damaligen Kinder des St. Pöltner Taubstummen-Instituts heraus, was mit ihnen geschehen ist. „Ich bin Anita unendlich dankbar, dass sie mich dazu motiviert hat, mich wissenschaftlich mit der früheren Zeit zu beschäftigen“, sagt er. Durch die Mitarbeit an dem Film hat Huber auch ganz neue Kontakte generiert – und weitere Ideen geboren.
Das gesamte Jahr 2024 steckten er und die Regisseurin in der Arbeit für „gehörlos“. Aus geplanten 20 Drehtagen wurden schließlich 40, und „unsere Arbeit ist noch nicht getan“, bekräftigt Lackenberger.
Das Schweigen brechen
„Die in der NS-Zeit sogenannten Krüppel-Gehörlosen“, erklärt Huber, „waren jene Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Unfall später ertaubt waren. Sie konnten zwar nicht hören, aber waren sehr sprach- und schriftkompetent.“ Einige von ihnen schlossen sich mehr oder weniger freiwillig den Nazis an und unterdrückten oder verrieten die genetisch Gehörlosen. „In der Zwischenkriegszeit fällt auf: Wer von den gehörlosen Menschen sprechen konnte, konnte sich durchsetzen“, weiß er, „und die, die es nicht konnten, hatten irrsinnige Probleme. Weil die Gesellschaft ihnen auch in den Berufen keine Chance gegeben hat.“ – „Noch in den 1980er Jahren waren es entweder Schneiderei oder Tischlerei, was Gehörlose lernen und ausüben durften“, ergänzt Lackenberger, „und das war‘s dann an Ausbildungsmodus.“
So viele Leben, so viele Geschichten
All das und noch viel mehr wird im Film aufgeschlüsselt – vielschichtig erzählt, mit klarem Schnitt und in aller Deutlichkeit. „Alle Beteiligten hatten natürlich mehr als nur eine Geschichte, die sie mit uns geteilt haben“, erinnert sich Huber. „Wir haben dann gemeinsam ausgewählt, welche davon im Film gezeigt werden.“ – „Dabei müssen wir aufpassen, was wir erzählen können, ohne rechtliche Konsequenzen zu fürchten“, fügt Lackenberger hinzu: „Und zwar Konsequenzen nicht für uns als Filmproduktion, sondern für die Betroffenen.“ Dass nach wie vor auch und häufiger die Täter geschützt als die Opfer entschädigt werden, bringt die kritische Regisseurin sichtlich auf. „In dem Rahmen unserer Möglichkeiten“, ist Huber aber überzeugt, „haben wir viel erreicht. Und uns bemüht, so viele Geschichten so vielseitig als möglich hineinzupacken.“
Entsprechend positiv fällt auch das Feedback aus, das er seit dem Film-Start von „gehörlos“ erhält. Viele gehörlose Menschen sind froh und erleichtert, dass es endlich einen solchen Film gibt, der so vieles zeigt. Zahlreiche Leute haben sich auch direkt bei ihm gemeldet, um ihm unter vier Augen vertrauensvoll von ihren eigenen Erlebnissen und Erfahrungen zu berichten. „Es gibt noch so viele persönliche Geschichten“, ist Huber bewegt, „und so viele Leute wollten und wollen sich die Zeit nehmen, um mir ihre zu erzählen. Der Film hat Türen geöffnet!“
Neue (Lehr-)Pläne für moderne Strukturen
Geöffnete Türen und barrierefreie Zugänge sind es auch, die Therese Reinel als Geschäftsführerin des BhW Niederösterreich beschäftigen: Mit dem Projekt der Basisbildung haben erwachsenen Menschen die für sie kostenlose Möglichkeit der Alphabetisierung. Das Projekt BhW barrierefrei wiederum unterstützt vor allem Gemeinden im Bundesland dabei, ein hürdenfreies Miteinander für alle Bürgerinnen und Bürger zu gestalten – ob baulich und in der Infrastruktur oder kommunikativ sowie digital. Die Auszeichnung „Vorbild Barrierefreiheit“ holt jedes Jahr Einzelpersonen, Organisationen und Gemeinden vor den Vorhang, die sich über den rechtlichen Rahmen hinaus für den Abbau von Hürden einsetzen. Der „gehörlos“-Filmpremiere in St. Pölten wohnte Reinel als Zuschauerin bei, die das Kino besonders beeindruckt und mit einem Koffer voller Fragen verließ. Fragen, die sie jetzt direkt Lukas Huber stellen kann, allen voran: „Welche Punkte müssen aktuell dringend erfüllt werden, um gehörlosen Menschen die Teilhabe zu ermöglichen?“
Reflexion und der Wille und Mut zur Aufarbeitung sind in manchen Gemeinden und Institutionen bereits gegeben, wie Huber in seiner Antwort darauf bekräftigt. Parallel dazu fehlt es aber aktuell an vielen Maßnahmen in Österreich.
Hürdenlauf für mehr Teilhabe
Besonders wichtig wäre laut Huber ein Umdenken im Schulsystem. Heute gehen niederösterreichische gehörlose Kinder in Wien ins Bundesinstitut für Gehörlosen-Bildung, wo die Gebärdensprachen-Kultur gepflegt wird. „Aber in Niederösterreich ist diese quasi ausgetrocknet“, so Huber. „Die Gehörlosenkultur ist mittlerweile sehr gering. Darum hoffen wir, dass das Bildungsministerium den neuen Lehrplan für Gebärdensprache jetzt endlich auch für unser Bundesland anwenden wird – und dass in den Schulen wieder ein Bewusstsein für Gebärdensprache und die Gehörlosenkultur gepflegt wird. Sodass sich die Community auch wieder verjüngt.“
Auf den optimierten Lehrplan folgt jedoch noch eine Hürde, so Huber. Wichtig wäre, dass gehörlose Pädagogen und Pädagoginnen mit Gebärdensprachen-Kompetenz die Möglichkeit erhalten, vollwertig zu unterrichten: vom Kindergarten über Volksschule, NMS und Gymnasium bis in die Oberstufe. Diese Lehrenden müssten in allen Bereichen der Schulbildung Einsatz finden können. „Die meisten gehörlosen Menschen in meinem Alter haben aber keine Matura“, weiß Huber, „und selbst wenn sie laut neuem Lehrplan die Chance hätten, wäre es zum jetzigen Zeitpunkt trotzdem nicht möglich, dass sie unterrichten – aufgrund der fehlenden Matura! Wir versuchen deshalb auch, alternative Ausbildungswege zu finden, wie potentiell Lehrende sich qualifizieren können, um zu unterrichten. Weil das das ist, was wir jetzt vor allem brauchen: gehörlose Vorbilder in der Schule und im Unterricht!“
„gehörlos“ – alle Film-Infos und Vorstellungen auf einen Blick:
https://www.kreativloesung.at/
Gehörlosenverband Niederösterreich
Vertretung und Anlaufstelle für Kommunikation und Austausch für alle gehörlosen und schwerhörigen Menschen sowie CI-Tragenden in NÖ
Sitz: Kaltenbrunngasse 7, 3100 St.Pölten
Tel.: 02742 21990
E-Mail: office@gehoerlos-noe.at
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