Nicht sichtbare Behinderungen: Barrierefreiheit weiterdenken
Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Behinderung“ hören? Vielleicht an einen Rollstuhl, einen Blindenstock oder ein Hörgerät? Solche sichtbaren Hilfsmittel prägen oft unser Bild von Behinderung und unser Verständnis von Barrieren im Alltag. Doch es gibt auch Behinderungen, die äußerlich nicht gleich als solche erkennbar sind – sogenannte nicht sichtbare Behinderungen (Hidden Disabilities). Diese führen im Alltag der Betroffenen oft zu Missverständnissen.
So auch bei Stefanie Glöckler. Die 40-jährige Lebens- und Sozialberaterin aus dem Bezirk Lilienfeld ist Autistin und ist aufgrund ihrer Neurodivergenz immer wieder mit Herausforderungen im Alltagsleben konfrontiert. „Telefonieren ist für mich furchtbar“, schildert sie. „Am liebsten wäre es mir, wenn es überall die Möglichkeit einer Online-Anmeldung für Termine gäbe.“ Auch der Besuch von Restaurants, Supermärkten oder Veranstaltungen ist für sie herausfordernd, vor allem, wenn das Licht zu grell und die Hintergrundmusik zu laut ist. „Das überreizt mich völlig und löst körperlichen Stress bei mir aus“, erzählt Stefanie Glöckler. „Oft brauche ich danach zwei Tage, um wieder runterzukommen und mich zu erholen.“
Auch dafür, dass viele Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen auf eine barrierefreie Umgebung – wie z.B. barrierefreie Zugänge, Behindertenparkplätze oder barrierefreie WCs – angewiesen sind, gibt es noch zu wenig Bewusstsein.
Zwischen Unsichtbarkeit und Unverständnis
Unter nicht sichtbare Behinderungen fallen z.B. chronische Schmerzerkrankungen, ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom), Multiple Sklerose oder Autismus. Auch Erkrankungen wie Epilepsie, Parkinson, Diabetes oder Morbus Crohn sowie psychische Erkrankungen wie Angststörungen oder PTBS (Posttraumatische Belastungsstörungen) können, je nach Schwere und individueller Ausprägung, Menschen in ihrem Alltagsleben so sehr einschränken, dass sie zu einer Behinderung werden.
Wichtig: Ob jemand sich als Mensch mit Behinderung identifiziert bzw. bezeichnet, entscheidet in erster Linie die Person selbst! Wie stark Betroffene ihre Erkrankung als beeinträchtigend bzw. als Behinderung erleben, ist höchst individuell und kann sich im Verlauf einer Erkrankung oder sogar je nach Tagesverfassung ändern.
Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „dynamischen Behinderungen“: Menschen, deren Erkrankung z.B. Schmerzen im Bewegungsapparat, Mobilitätseinschränkungen oder starke Erschöpfung verursacht, nutzen bedarfsweise Hilfsmittel wie Rollstühle oder Gehhilfen. An manchen Tagen kann es sein, dass sie nicht auf das Hilfsmittel angewiesen sind. Was für Außenstehende widersprüchlich wirken mag, ist für Betroffene Alltag – und führt leider oft zu Unverständnis oder misstrauischen Blicken. Wer jung und körperlich fit erscheint, aber aufgrund einer nicht äußerlich sichtbaren Einschränkung das barrierefreie WC benutzt, an Veranstaltungen nicht teilnehmen kann oder oft in der Arbeit fehlt, wird schnell als „Simulant“ oder „Simulantin”, „faul“ oder „überempfindlich“ abgestempelt. Solche diskriminierenden Fehleinschätzungen von außen sind nicht nur verletzend, sondern verstärken auch das Gefühl von Stigmatisierung und Ausgrenzung – eine Erfahrung, die auch Stefanie Glöckler immer wieder macht. „Ich entspreche nicht dem Bild, das viele Menschen von Autistinnen und Autisten haben“, erzählt sie. Häufig bekomme sie daher Sätze zu hören wie „Geh, stell dich nicht so an!“ Sie wünscht sich mehr Verständnis dafür, dass aufgrund ihres Autismus gesellschaftliche Anlässe oder Small Talk für sie oft überfordernd sind und sie daher viel Ruhe und Rückzug braucht. „Es ist schade, wenn Menschen urteilen, ohne zu wissen, was im Leben anderer Menschen los ist“, sagt sie. Allerdings hat sie schon erlebt, dass manche Menschen sich zurückziehen, sobald sie von ihrer Diagnose und den damit verbundenen Schwierigkeiten erzählt. „Das alles kostet sehr viel Energie“, erklärt sie.
Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen stehen nicht nur unter sozialem Rechtfertigungsdruck. Mitunter müssen sie auch ihren Anspruch auf barrierefreie Infrastruktur, soziale Hilfeleistungen und Unterstützungsangebote für Menschen mit Behinderungen immer wieder rechtfertigen und erklären.
Unterstützung und Sichtbarkeit: Hidden Disabilities Sunflower
Eine internationale Initiative bemüht sich darum, Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen zu unterstützen: Die „Hidden Disabilities Sunflower“, ein Sonnenblumen-Symbol, wird z.B. auf Flughäfen und an anderen öffentlichen Orten eingesetzt. Menschen, die es tragen – etwa in Form eines Ansteckers oder eines Schlüsselbandes –, können so signalisieren, dass sie möglicherweise Unterstützung benötigen oder auf Rücksichtnahme angewiesen sind. Voraussetzung ist, dass Mitarbeitende entsprechend geschult und sensibilisiert sind. In Österreich beteiligen sich bislang der Flughafen Wien und Austrian Airlines an der Initiative.
Auch im öffentlichen Raum, in Gemeindeverwaltungen, Bildungs- und Kultureinrichtungen oder bei Veranstaltungen kann der Einsatz solcher Symbole einen wertvollen Beitrag zu mehr Inklusion leisten. Wichtig dabei: Das Symbol muss bekannt gemacht, erklärt und entsprechend für nicht sichtbare Behinderungen und verschiedene Anforderungen sensibilisiert werden.
Stefanie Glöckler findet es gut, dass mit dem Symbol mehr Aufmerksamkeit für nicht sichtbare Einschränkungen geschaffen wird – ein Thema, das ihrer Meinung nach noch viel stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden muss. An öffentlichen Orten oder bei Veranstaltungen würde sie auch ein aktives Zugehen der Verantwortlichen auf Menschen begrüßen: Etwa durch gezieltes Nachfragen, ob jemand Hilfe benötigt. „Viele trauen sich aus Scham oder Überforderung wahrscheinlich gar nicht, nach Unterstützung zu fragen“, vermutet sie.
Barrierefreiheit weiterdenken
Nicht sichtbare Behinderungen erfordern ein weiterreichendes Denken in Sachen Barrierefreiheit. Der Trugschluss, nur „offensichtlich“ beeinträchtigte Menschen bräuchten Barrierefreiheit, greift zu kurz. Tatsächlich ist eine barrierefreie Umgebung für sehr viele Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen und Anforderungen wichtig – und letztlich für alle Menschen komfortabel. Es ist wichtig, aufmerksam und sensibel für unterschiedliche Bedürfnisse zu sein. Dafür braucht es Aufklärung, Empathie und die Bereitschaft, die Vielfalt menschlicher Lebenswirklichkeiten anzuerkennen und ernst zu nehmen.
Unterstützung kann konkret z.B. so aussehen:
- Einführung der Hidden Disabilities Sunflower in öffentlichen Einrichtungen: Produkte wie Schlüsselbänder, Anstecker usw. mit der Sonnenblume können über die Hidden Disabilities Sunflower Initiative bestellt werden. Link zum Shop
- Begleitende Sensibilisierungsarbeit, z.B. durch Workshops, Vorträge oder Schulprojekte
- Umfassende Barrierefreiheit bei Veranstaltungen, z.B. auch Rückzugsräume für Menschen mit Reizempfindlichkeit oder Erschöpfung, ausreichend Pausen, um aufs WC gehen zu können, Hybridveranstaltungen (vor Ort und online) usw.
- Einbindung von Menschen mit (nicht sichtbaren) Behinderungen in Planungsprozesse, besonders bei der Gestaltung öffentlicher Räume und von Gemeindedienstleistungen. Menschen mit Behinderungen sind Fachleute in eigener Sache und ihr Feedback sollte unbedingt ernst genommen werden.
Die Kompetenzstelle BhW barrierefrei berät Sie gerne! Wir haben einen umfassenden Blick auf Barrierefreiheit und unterstützen Sie zum Beispiel mit Gemeindebegehungen, Workshops, Webinaren, Vorträgen oder Informationsmaterial zur Barrierefreiheit.
Quellen und weiterführende Links:
Gersdorff, Anne und Sturm, Karina (2024): Stoppt Ableismus! Diskriminierung erkennen und abbauen. Hamburg: Rowohlt Verlag.
https://www.behindertenrat.at/2022/10/unsichtbare-nicht-sichtbare-behinderungen/
https://www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion/unsichtbare-behinderung
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